Herr Wolf und die sieben Geißlein

Nördlich von Berlin hat sich ein furchtbarer Fall von Kindesentführung zugetragen. Aus dem Grunde wird der Kinderfilm „Der Wolf und die sieben Geißlein“ unterbrochen.

Fernsehmoderatorin:

Wir unterbrechen unser Programm für eine 15-minütige Sondersendung.

Birkenwerder: Einer Bürgerin namens Geiß sind sechs ihrer sieben Kinder entführt worden. Beim mutmaßlichen Kidnapper handelt es sich um den polizeibekannten Wolf. Wolf besitzt keinen festen Wohnsitz. Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist er ein Einzeltäter, der mit ausländischem Akzent spricht.

Seine Haarfarbe ist grau, die Augen braun. Er trägt einen grauen Pelzmantel, Handschuhe sowie Schuhwerk aus Leder. Wie die Polizei mitteilte, seien die Kinder von besagtem Entführer aus der Wohnung verschleppt worden. Die Tat geschah, als die in Birkenwerder wohnhafte alleinerziehende Frau Geiß im angrenzenden Baumbestand Essbares, also Beeren und Pilze für ihre Geißlein, wie sie ihre Kinder zu nennen pflegt, sammeln war.

Laut Aussage des kleinsten ihrer Kinder hätte es sich, während dieser Wolf sich Zutritt zum Haus verschafft hatte, im Uhrenkasten versteckt und wäre so dem Schicksal entgangen, das seine sechs Geschwister ereilt hatte.

Als der Mann mit heller Stimme um Einlass bat, glaubten die Kinder, vor der Türe stehe ihre Mutter und ließen ihn ein. Zwei Mal schon begehrte an den Vortagen ein Fremder Zutritt zur Wohnung, den sie für einen Wolf gehalten hatten. Dieser gab sich als ihre Mutter aus. Mit den Worten: ‚Du, du bist unsere Mutti nicht. Du bist ein böser Wolf’, hätten sie ihn an der Tür abgewiesen.

In allen drei Fällen handelte es sich um denselben, vermutet die Kriminalpolizei. Der Verdächtige habe sich vorher in einer Logopädiepraxis behandeln lassen, wurde verlautbart. Beim Verhör gab der Logopäde zu, dass er die tiefe Stimme dieses gefährlichen Täters um eine Oktave gehoben hätte. Zudem räumte er ein, ihn mit Heilkreide für die Stimmbänder ausgerüstet zu haben.

Wie es aus gut informierten Kreisen hieß, sollen bei seinem Verhör auch unkonventionelle Methoden zur Anwendung gelangt sein.

Unsere Gäste, die Politiker Gotthold Schwarzkittl von der Opposition und der zuständige Minister Lutz Baum, sind zur Beantwortung einiger Fragen ins Studio gekommen.

Herr Schwarzkittl, wie beurteilen sie die gegenwärtige Gefährdungslage, dass Wolf auch noch das Jüngste der Mutter raubt?

Schwarzkittl: Zunächst möchte ich mal Folgendes festhalten: Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wieso bereits der Ausnahmezustand ausgerufen wurde und sogar die Bundeswehr ...

Minister: Wären Sie in meiner Stellung als Minister im Amt, würden Sie garantiert auch die Alarmbereitschaft herstellen lassen. Schwarzkittl:Was ich sagen wollte ist, ...

Minister: Jetzt werde ich Ihnen mal was sagen: Die Option, den Bündnisfall festzustellen, ist derzeit nicht gegeben, das lasse ich mir von Ihnen auch nicht unterstellen, falls Sie darauf anspielen, von Ihnen nicht ...

Schwarzkittl: Was ich sagen wollte ist, dass wir davon ausgehen, dass es sich bei diesem Anschlag um einen eklatanten Fall von Behördenversagen ...

Moderatorin: Ich muss Sie leider unterbrechen...

Schwarzkittl: Wenn ich den Satz noch zu Ende...

Minister: Nein, können Sie nicht. Sie haben doch gehört, was die Moderatorin ...

Moderatorin: Meine Damen und Herren, wie soeben per Eilmeldung mitgeteilt wurde, hat die Bundeskanzlerin den Entführungsfall zur Chefsache erklärt. Ihren Urlaub in Kitzbühel hat sie abgebrochen und befindet sich im Landeanflug auf dem Flughafen. Sie sei bestürzt und tief erschüttert, lässt sie verlautbaren.

Der Bundespräsident, der zu einem längeren Aufenthalt in Florida weilt, lässt von seinem Sprecher Folgendes mitteilen: Er sei tief erschüttert und bestürzt. In diesen schweren Stunden stünde er fest an der Seite der Mutter der geraubten Kinder. Er zeigte sich zuversichtlich, dass diese in Kürze aus den Händen des Entführers befreit werden und die Mutter alle ihre Kinder wieder in ihre Arme schließen könne.

Wie aus Regierungskreisen weiter zu erfahren war, findet das Kabinett sich derzeit zu einer Krisensitzung in Berlin zusammen.

Wir schalten jetzt life zu meinem Kollegen Gordon-Cavin Leh-mann. Er befindet sich in Birkenwerder, wo besagter Wolf zuletzt von Zeugen in der Nähe des Tatortes gesehen worden ist.

Hallo Gordon-Cavin, hat sich die Mutter der geraubten Kinder zu dieser schrecklichen Tragödie bereits geäußert und ist inzwischen genaueres über das Schicksal ihrer Kinder bekannt?

Gordon-Cavin: Die Mutter ist momentan nicht vernehmungsfähig. Sie wird von einem Seelsorger betreut. Zudem sind beide von Schaulustigen umringt. Wer hätte erwartet, dass das Dorf so viele Besucher sehen würde? Auch der Bürgermeister ist erschienen, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

In ihrer Verzweiflung soll die Muter wiederholt geäußert haben, dass dieser Wolf alle ihre sechs Geißlein, wie sie sich ausdrückt, gefressen habe.

Auch ihr jüngstes Kind behauptete bei seiner Zeugenverneung, der böse Wolf hätte seine Geschwister nacheinander gefressen und im Ganzen runtergeschluckt.

Technik an Regie: Chef, wir haben aktuell eine Einschaltquote von 95,3 %.

Regie an Technik: Das soll uns erstmal einer nachmachen. Verbinde mich mal mit Gordon-Cavin!

Regie an Gordon-Cavin Lehmann: Gordon-Cavin, ich brauche die Mutter im Bild und versuche den Seelsorger auszuquetschen.

Gordon-Cavin an Kamera: Lass die Drohne aufsteigen! Der Chef will die Mutter haben.

 Moderatorin: Was ist von den Augenzeugen zu hören gewesen, Gordon-Cavin, und ist etwas über das Motiv des Täters bekannt?

Gordon-Cavin: Die Zeugen gaben zu Protokoll, dass sie Wolf kurz nach der Tatzeit gegenüber dem Rathaus von Birkenwerder gesehen hätten. Allerdings stimmt ihre Personenbeschreibung in einem Punkt nicht mit dem Steckbrief überein: Das ist der enorme Bauchumfang. Die beobachtete Person trug zwar einen grauen Pelz und hat ebensolche Haare, muss aber offensichtlich ein viel größeres Gewicht haben als der gesuchte Gefährder.

 Eben noch patrouillierten in den Straßen Jäger und Förster mit geladenen Schrotgewehren. Im Forstministerium war man wegen der Namensgleichheit anfangs fälschlicherweise von einem Problemwolf statt von einem Terroranschlag ausgegangen. In diesem Zusammenhang war von einem hungrigen Einwanderer aus Osteuropa die Rede.

Regie an Gordon-Cavin: Gordon-Cavin, du hast noch 30 Sekunden.

Moderatorin: Danke Gordon-Cavin, kann es sein, dass der Terrorist die sechs Kinder unter seinem Pelzmantel versteckt hielt?

Gordon-Cavin: Deine Frage kann ich vielleicht an Landrat Westkamp weiter reichen; er steht zufällig neben mir. Die Nachricht von der Entführung hat ihn im Kaffeehaus Birkenwerder erreicht, wo er mit der Bundestagsabgeordneten Grossmann-Reets zum Arbeitsessen verabredet war; von da aus ist er direkt zu unserem Übertragungswagen geeilt. Eben ließ er mich wissen, wie bestürzt und tief erschüttert sie und er seien.

Zunächst gebe ich aber zurück ins Fernsehstudio.

Moderatorin: Meine Damen und Herren, wir beenden die Sondersendung und melden uns zu den Nachrichten zurück.

Jetzt schalten wir ins Kochstudio. Soviel sei schon verraten: Ein gespickter Ziegenbraten mit Waldpilzen und Preiselbeeren steht auf dem Speiseplan – märchenhaft.

Anmerkung des Autors:

Noch bevor die Sonne unter ging, sah man Frau Geiß mit all ihren Kindern um den Brunnen tanzen. Dabei sangen sie das bekannte Kinderlied „Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot“.